Opfer ticken anders

opferstereotypIn einem Kommentar zu meinem Beitrag „Unglaubwürdige Anschuldigung“, stellte sich die Glockenbacherin die rhetorische Frage: „Aber Opfer ticken wohl anders?“. Diese Frage folgte ihrem Unverständnis darüber, dass Opfer eher eine Untat ertragen, als sich dagegen zu wehren. Speziell meinte sie damit sexualisierte Übergriffe von Frauen gegenüber Männern, die Männer stillschweigend erdulden, weil sie andernfalls Beziehungsstress fürchten.

Nun, ich weiß nicht, wie Opfer ticken. Ich weiß, wie ich als Opfer getickt habe; ich weiß, wie Freunde aus den Sucht-Selbsthilfegruppen als jugendliche Opfer und erwachsene Überlebende tickten; und ich weiß aus etlichen einschlägigen Foren wie Opfer sexuellen Missbrauchs tickten. Und alle diese Opfer tickten relativ gesund und normal, so wie Menschen eben ticken, die Gewalt und Missbrauch in einer vertrauten Umgebung ausgesetzt sind und sich aus ihr nicht ohne einschneidende Konsequenzen entfernen können. Sie versuchen zunächst, die Gefahr abzuwehren; danach, zum Opfer geworden, versuchen sie, die Gefahr zu reduzieren, indem sie sich zurückziehen, sich unattraktiv machen und, wann immer möglich, dem Täter aus dem Weg gehen.

Kein Opfer trägt ein Mal auf der Stirn, an dem es Täter erkennen. Nur wenige Täter suchen sich speziell ein Opfer. Vielmehr nutzen sie sich bietende Gelegenheiten. Manche machen sich an viele Personen heran, bis sie eine finden, die sich gegen den sich anbahnenden Übergriff nicht verwahrt. Andere missbrauchen Vertrauen, indem sie ein in ihrer Obhut stehendes Kind suggestive „verführen“. Höchst selten vollzieht sich sexualisierte Gewalt im sozialen Umfeld, wie wir dies von Vergewaltigungsszenen in Krimis kennen. Da springt kein Täter sein Opfer an. Vielmehr geschieht der Übergriff allmählich. Die Täter gehen häufig planvoll vor; in meinem Fall bereitete mich die Mutter ab dem fünften Lebensjahr durch ihr sexualisiertes Verhalten vor. Schlimm an diesen Fällen ist, dass der Täter sein Opfer auf Samtpfoten umgarnt und es schmeichelnd angreift.

In anderen Fällen wiederum geschieht der Übergriff eher rasant, indem der Täter absichtsvoll und direkt vorgeht und die Angststarre seines Opfers ausnützt.

In jedem Fall ist das Opfer schockiert. Seine erste Reaktion ist, das kann doch nicht sein, dass Tante Frieda mich da so anfasst, oder Onkel Willi mir sein Ding zeigt. Und da es keine Fremden sind, von denen man keinen Lutscher annehmen oder zu denen man nicht ins Auto steigen darf, ist das Opfer so irritiert, dass, wenn es nicht sofort kreischt und strampelt, übermannt oder überweibt wird.

Egal wie der Täter an sein Ziel gelangt, er erreicht es scheinbar gewaltfrei. Da fließt kein Blut, da gibt es keine blauen Flecken, da wird dem Kind buchstäblich kein Haar gekrümmt. Ja, und selbst wenn es danach blutet und vor Schmerz und Scham weint, findet es meist beim Täter sogar noch Trost; sofern es nicht in kranker Verkehrung ob seiner Luderhaftigkeit beschimpft wird. Und gerade diese Niedertracht macht das kindliche Opfer schweigsam. Durch die scheinbar gewaltlose Tat wägt es sich am Übergriff mitschuldig, und meint, die erlittene Schändung durch sein Verhalten selbst provoziert zu haben. Ja, ihm wird die Mitschuld vom Täter durch ein Schweigegebot oder entsprechende Unterstellungen – zum Beispiel es selbst gewollt zu haben – introjiziert.

Das Opfer wurde stets in seiner Harmlosigkeit und Vertrauensseligkeit überwältigt. Und dies kann jedem Menschen geschehen. So schmuste der Vater mit mir und meiner Schwester lange und intensiv. Körperliche Nähe mit ihm war eine Selbstverständlichkeit. Das dies dann in sexualisierte Gewalt umschlug war ein lähmender Schock. Und das Schweigen ergab sich von selbst: Denn wer da draußen würde uns schon unsere Geschichte glauben?

Und selbst wenn ein Opfer über soviel Selbstsicherheit und Selbstbwusstsein verfügt, den Täter abzuwehren, bedeutet das nicht, dass es von ihm verschont bleibt; denn es gibt genügend Täter, die Widerstand herausfordert, ihre Zudringlichkeit zu steigern.

Dass Geiseln vom Zeitpunkt ihrer Geiselnahme an anders ticken, weiß man längst – davor verhielten sie sich ganz normal, und sie verhalten sich als Geiseln ebenso normal. Man spricht dann vom Stockholm-Syndrom. Für das Verhalten von Geiseln sexualisierter Gewalt gibt es keinen vergleichbaren Begriff. Doch Opfer sexualisierter Gewalt werden zu den Geiseln der Täter und zeigen ähnliches, aber auch spezifisches Verhalten. Opfer ticken deshalb später auch nach der Tat anders. Sie haben einen totalen Vertrauensbruch erlebt, sie hatten sich selbst aufgegeben, sie mussten häufig Todesangst durchstehen und ihre Seele wurde vielfältig zerbrochen.

Von daher ist es wenig erstaunlich, dass Überlebende sexualisierter Gewalt später häufig reviktimisiert, also wieder zum Opfer werden. Der vorangegangene Missbrauch hat sie derart zerstört, dass sie, sofern sie entsprechend getriggert werden, in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Ob diese Reviktimisierung mit Signalen der Opfer einhergeht, die ein Täter erkennt, oder ob die Opfer schlicht auf die alltäglichen Versuche potentieller Täter ansprechen, die auf der Suche nach einem Opfer sind, darüber gibt es Spekulationen aber kein gesichertes Wissen.

Ein oft übersehener Punkt, der hierbei hintergründig die wechselseitige Affinität von Tätern und Opfern mitbestimmt, ist der verzweifelte und ständig erfolglose Versuch des Opfers vom Missbraucher, der es zutiefst missachtet, dennoch die andauernd versagte Liebe zu erfahren. Ein Grund, weswegen viele Therapien versagen, da das Opfer das absolute Kontaktverbot zum Täter während der Therapie nicht einhalten kann. Ich selbst hatte zum Beispiel aus eben diesem Grund immer wieder den Kontakt zur Mutter gesucht. Selbstverständlich habe ich die Liebe, die ich suchte, nie von ihr erhalten. Dieses Defizit aber machte mich anfällig für potentielle Täterinnen.

Zur naheliegenden Gegenfrage, wie Täter oder spezifisch in meinem Fall Täterinnen ticken, kann ich noch weniger sagen. Es interessiert mich als Opfer auch nicht besonders. Doch ich rieche und erkenne sie inzwischen, die Frauen, die Opfer suchen. Sie stechen für mich hervor. Sie sind ganz normale Frauen, nur eben einen Tick anders. Etwas gieriger, etwas zu einfühlsam, etwas zu aufmerksam … Es sind kleine Signale, die für sich unbedeutend sind, die mich aber dennoch warnen. Darum meide ich solche Frauen. So ticke ich heute als Überlebender. – Eben stets ein wenig anders …

4 Gedanken zu “Opfer ticken anders

  1. „Sie sind ganz normale Frauen, nur eben einen Tick anders.“

    Es würde mich sehr interessieren, wie man – bei aller Unsicherheit solcher persönlichen Einschätzungen – das genauer charakterisieren könnte. Und „gefühlte Zahlen“ würden mich auch interessieren. Auf Unanfechtbarkeit verzichte ich zugunsten der Sichtbarkeit der Intuition.

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    • @ elmardiederichs: Manche Raubtiere nähern sich ihrer Beute mit auffälligem Desinteresse, um dann blitzschnell zuzuschlagen. Die letzte körperliche Attacke einer Frau auf mich geschah vor rund drei Jahren. Sie verhielt sich zuvor in ähnlicher Weise und fiel mir deswegen auf. Ich schrieb in meinem Therapietagebuch darüber: “Dann eine Frau, auffällig, auf mich fixiert. Ich weiche ihr aus. Einmal zupft sie „neckisch“ an meinem Einstecktuch. Zum Schluss erwischt sie mich, zieht mit beiden Händen an den Revers meines Sakkos, als wollte sie mich zu sich ziehen. Ich bin schockiert, lehne mich zurück, entziehe mich ihr, wende mich ab, gehe auf die Terrasse. Mir ist zum Kotzen.“

      Andere Frauen fallen mir auf, weil sie mir mit auffälliger Aufmerksamkeit begegnen, meinen Blickkontakt suchen, Posen annehmen, mich in banale Gespräche verwickeln, um Komplimente anzubringen. Doch das eigentliche ist diese seltsame auf mich fixierte Gier in ihren Augen. So sichtbar im Modus: Ich will dich haben! Ja, es ist, wie wenn man ein besonders schönes Objekt betrachtet, und weiß, man kann es sich leisten. Denn in ihrem Blick liegt nicht nur, ich will dich haben, sondern auch: Du gehörst mir schon! Als wäre ich schon erlegt. – Die einzige Möglichkeit, mich dagegen zu wehren, ist, mich ihnen zu entziehen.

      Ich vermute, mit Zahlen meinen Sie, wie hoch ich den Anteil der Täterinnen unter den Missbrauchsfällen einschätze. Nun, die Statistiken geben etwa 15 % her, die Schätzungen liegen bei 20-25 %. Meine persönliche Schätzung liegt höher, denn Missbrauch durch Frauen lässt sich schwerer einordnen, da vieles als mütterlicher Pflege abgetan werden kann. Ein Beispiel aus meinem Tagebuch, dass ich ebenfalls vor drei Jahren beobachtete: Ich glaubte es nicht und konnte deswegen nicht wegschauen. Im Nordbad cremt eine Mutter ihren vielleicht sechsjährigen Buben ein. Er ist nackig. Die Mutter streicht sanft über ihn. Sein Glied ist erigiert. Jetzt cremt sie seine Lenden und seine Innenschenkel. Fertig, schlingt sie ihm das Handtuch um. Der Bub setzt sich zur Seite und spielt unterm Handtuch an seinem Glied. – Mir fällt dazu nichts ein, außer Traurigkeit, die mich übermannt und meine ohnehin schon wallende Tristesse weiter nährt. – Kein guter Tag.

      M.R. meinte damals dazu, dass dies die Sicht aus meinem Hintergrund heraus sei. Die Situation könne in Wahrheit vollkommen harmlos gewesen sein. Die Mutter trocknet ihren Buben ab, und er reagiert erkennbar auf die Streicheleinheiten. Eine Überlegung, die ich nicht verwerfen kann. Auch im Kinderheim war es nach meiner Erinnerung nur Tante Helga, die übergriffig Buben eingeseift hatte. Wobei sie offensichtlich eine hebephile Neigung gehabt hatte. Denn die gerade pubertierenden Buben waren ihrer Meinung nach besonders unreinlich, und sie musste da häufiger nachseifen. – Ein Umstand, der mir damals gar nicht bewusst war. Mich beschämte damals nur, was sie tat, und ich wünschte mir, nicht in die peinliche Situation zu kommen, von ihr gewaschen zu werden. Jedenfalls entstanden da Bilder, die auch heute noch zur Filmothek in meinem Kopfkino gehören. Erst viele Jahre später im Gespräch mit meinen Brüdern konnte ich einordnen, was damals geschah.

      Eine andere Einschätzung. Ich besuche von den Sucht-Selbsthilfegruppen hier am Ort eine regelmäßig, so dass ich die Geschichten der Beteiligten gut kenne. Der Gruppe fühlen sich etwa 50 Mitglieder zugehörig, die sie darum mehr oder minder regelmäßig besuchen. Davon sind etwa 10 Mitglieder weiblich. Eine wurde von ihrer Mutter missbraucht. Eine andere hatte zwei Missbrauchserfahrung mit Frauen. Von den etwa 40 Männern wurden 8 von ihren Müttern missbraucht. Auffällig, mit ist nur ein Mitglied bekannt, das von Missbrauchserfahrungen durch den Vater berichtet.

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  2. Ein außergewöhnlicher Bericht … wirlich erhellend, danke.

    Eine Anmerkung: Ich kann mich nicht erinnern, daß meine Eltern versucht hätten, mich derart oder mit solchen Folgen einzuseifen oder einzucremen. Und hätten sie es getan, wäre es mit äußerst seltsam vorgekommen. Letzteres kann ich mit Bestimmtheit sagen, da mir ein Freund im Grundschulalter von Erlebnissen mit seinem etwa 10 Jahre älteren Bruder berichtet hat, die ich mit heutigem Wissen verstehe und die an Vergewaltigung grenzten (oder darüber hinaus gingen – das wurde damals nicht so klar). Damals sagten mir die Andeutungen, die ich erzählt bekam, nichts. Dennoch dämmerte mir, daß es sich um etwas Schlimmes handeln mußte.

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    • Ja, manche Ereignisse erhalten erst in der späteren Rezeption, die ihnen zukommende Bedeutung. So fügte ich dem zuletzt zitierten Absatz aus meinem Tagebuch, nachfolgenden Gedanken hinzu:

      Dahingehend sind Erinnerungen auch etwas Abseitiges, das erst entdeckt und ins Zentrum gerückt werden muss, um es würdigen zu können. Die Erinnerung selbst bleibt faktisch unverändert, jedoch ihre Bewertung und damit ihre Bedeutung verändert sich. Es hat Parallelen zur historischen Rezeption, die die Vergangenheit umdeutet, aber häufig, auch weil sie die Fakten nicht mehr verändern kann, die Einschätzung der Ereignisse revidiert, wodurch auch die Bewertung aktueller Abläufe korrigiert wird. – So bin ich beispielsweise durch die andere Sicht auf meine Geschichte wehrhafter und selbstfürsorglicher geworden, bzw. merke viel eher, wenn ich beginne, mich zu vernachlässigen.

      Dies ist mit ein Grund, warum ich die in manchen Therapien praktizierte und in medizinisch-psychologischen Disziplinen diskutierte und erforschte Umprogrammierung von Erinnerungen skeptisch betrachte und für mich radikal ablehne.

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