Barmherzigkeit, oder wie Opfer eine Täterin vor Tätern schützen

Meine Schwiegermutter ist 92, dement, und sie war eine Täterin. Ich habe in diesem Blog bereits zweimal über sie berichtet. Einmal über ihren mittelbaren sexuellen Missbrauch, als sie meine spätere Frau als 16jährige an einen Arzt verkuppelte, um sich so indirekt einen eigenen feuchten Traum zu verwirklichen (siehe hier). Ein andermal als ich über ihre narzisstischen Züge schrieb, durch die sie ihre Tochter dauerhaft schädigte, indem sie ihr Selbstwert und Selbstbewusstsein untergrub (siehe hier). Letzten Freitag, als meine Frau und ich sie wieder im Altenstift besuchten, sprachen wir auf dem Hinweg einmal mehr darüber, dass sie eine Täterin ist, und wir nie wüssten, in welcher Laune wir sie in ihrer Demenz anträfen. Doch es stimmt, was ein Bekannter, der viel mit alten Menschen zu tun hat, mir jüngst verriet, nämlich dass Demente oft eine rührende und liebe Seite hervorkehren, die sie einst bei klarem Verstand tief in sich vergraben hätten.

Seit Anfang dieses Jahres besucht meine Frau ihre Mutter regelmäßig im Altenheim. Davor hatte sie über zehn Jahre keinen persönlichen Kontakt mehr mit ihr; bis auf den Austausch von Grußkarten zu Geburtstag und Weihnachten in den letzten fünf Jahren. Zum Ende des Winters im März 2017 brach sich die Mutter den rechten Oberschenkel. Zu der Zeit humpelte unser Sohn nach einer Hüftimpingement-Operation in seiner Wohnung und wir besuchten ihn, um seine Einsamkeit zu lösen. Er ist gehörlos und deswegen auf direkte Zwiesprache als Seelennahrung angewiesen. Unser Sohn war ganz aufgekratzt, dass seine Oma nun sterben könnte und malte sich schon aus, was er mit seinem Erbe anstellen würde. Ein BMW, ein Apple-PC waren bereits fixe Vision. Meinen Hinweis, dass André Hellers Mutter mit zwei Schenkelhalsbrüchen schon 102 Jahre alt und immer noch rüstig sei, quittierte er mit spöttischem Lachen. Für den Moment war er Mephisto und wusste, was geschieht: Geld würde auf ihn kommen! Schließlich verstieg er sich in seiner Gier dazu, seiner Mutter zu drohen, wenn sie ihren Erbanteil nicht in seinem Sinne bewahren würde, würde er sie erdrosseln, dazu machte er eine eindeutige, konsequente Geste. Es war ihm ernst, was er gebärdete. Meine Frau weinte und brach auf. In der Tür forderte ich unseren Sohn auf, sich bei Mama zu entschuldigen. Er tat es unwillig, brummig, unglaubhaft.

Jedenfalls war das Tischtuch zerschnitten, bis zum letzten Winter, als unser Sohn Anfang Januar 2018 nach einer weiteren Hüftimpingement-Operation aufgrund einer Sepsis und grippalen Lungenentzündung sterbenskrank auf der Isolierstation lag. Hier sorgte meine Frau erneut für ihn. Er selbst war jedoch recht kalt zu ihr, auch schien ihm jede fürsorgliche Berührung zuwider zu sein. Die Erklärung für sein abweisendes Verhalten ergab sich alsbald. Denn zwei Tage bevor er auf die Isolierstation kam, traf meine Frau nach zehn Jahren Schweigen ihre Mutter im Altenwohnstift.

Das Opfer sorgt sich um die Täterin und blickt in eine Schlangengrube

Anlass für das Treffen war, dass der Austausch der Grußkarten nicht mehr wie gewohnt ablief. Auf die Geburtskarte im Sommer und die Weihnachtswünsche reagierte die Mutter nicht mehr. Folglich suchte meine Frau ihre Mutter im neuen Jahr auf. Es war eine tränenreiche Begegnung, bei der sie sich auch nicht scheute, Unangenehmes anzusprechen. Allerdings erfasste die inzwischen demente Mutter die Items nicht mehr soweit, dass ein Gespräch darüber möglich gewesen wäre.

Beim dritten Besuch Ende Januar legte ihr ihre Mutter verschiedene Schriftstücke vor, die ihr ihr Enkel vor Weihnachten überbracht hatte, und beklagte sich, was ich darin böses über sie geschrieben hätte. Es waren zwei E-Mails aus dem vergangenen Jahr, die ich an meinen Sohn gerichtet hatte, und in denen ich ihn rügte, dass er seine späte Zukunft – immerhin wird er dieses Jahr 46 Jahre alt – auf dem möglichen Nachlass seiner Großmutter aufbauen möchte und hierfür ihren Tod herbeisehnt. In diesem Zusammenhang wies ich auch daraufhin, dass ich es für erbärmlich halte, wie er seine Oma umschmeichelt und sich gegen seine Mutter stellte, obwohl er weiß, wie sehr seine Mutter als Kind unter ihren narzisstischen Übergriffen gelitten hatte. Auch wies ich ihn daraufhin, dass die Lebenserwartung seiner Oma wenigstens noch fünf Jahre betragen würde, und er dann, sollte sie tatsächlich sterben, bereits 50 Jahre alt sein würde; es also ein recht später Anfang sei, um es in seinem Leben noch zu etwas zu bringen.

Das andere Schriftstück war ein Ausdruck meines Blogbeitrages „Die perfekte Rabenmutter“. Unser Sohn und seine Lebensgefährtin hatten also im Internet gestöbert, um weitere inkriminierende Texte von mir zu finden, was nicht allzuschwer ist, da mit dem Stichwort „Missbrauch“ in Verbindung mit unseren Vornamen bereits auf der ersten Googleseite Treffer zu finden sind, die auf mein Blog verweisen.

Wir beide empfinden dieses Vorgehen als besonders infam, wie unser Sohn und seine Trulla unsere beiden schrecklichen Geschichten instrumentalisierten, um uns bei der Großmutter zu diskreditieren. Die dahinterstehende Absicht ist jedenfalls durchsichtig: beide erhofften sich, dass die Abgeschiedenheit der Großmutter weiterwährte und die Oma aus Verbitterung über Schwiegersohn und Tochter den Erbanteil des Enkels anhebt. Gleichzeitig folgt dieses Verhalten der Niedertracht, die ich in diesem Blog mit meinen Beiträgen zu den Strukturen des Missbrauchs brandmarke. Denn den Überlebenden von Kindesmissbrauch und –misshandlung noch Dreck hinterherzuwerfen ist billig, vor allem dann, wenn man den Schmerz des Opfers einer uneinsichtigen Täterin zu Ohren bringt; da für sie dann die ihr vorgetragene eigene Schändlichkeit nur wie eine Schlechtigkeit des Opfers klingt und sie sich somit reziprok gar moralisch erhöht.

Jedenfalls erklärte meine Frau ihrer Mutter dezidiert, was mit meinen Vorhaltungen und Erläuterungen an meinen Sohn gemeint war; den Blogbeitrag selbst verstand sie aufgrund ihrer Demenz ohnehin nicht mehr. Schließlich konnte sie ihre Mutter wieder beruhigen. Es war überhaupt eine Fügung, dass meine Frau wieder Kontakt zu ihr aufgenommen hatte, denn was noch kommen sollte war beispiellos. Ich selbst lehnte zu dieser Zeit noch eine Begegnung mit der Täterin ab.

Die Täterin ist verschwunden und ihr Opfer in Panik

Mitte Februar wollte meine Frau ihre Mutter wie vereinbart wieder besuchen; doch die war nicht da. Als sie an der Pforte fragte, wo die Mutter sei, wurde ihr die Geschäftsführung des Altenstiftes geschickt, nebenbei erfuhr sie, dass tags zuvor unser Sohn mit seiner Lebensgefährtin dagewesen war. Die Geschäftsführung war einsilbig zu meiner Frau. Ihre Mutter sei nicht da. Wo sie ist, könne man ihr nicht sagen. Wie es ihr geht, könne man ihr gleichfalls nicht sagen. Man sei zu keinerlei Auskunft berechtigt. Es war uns klar, dass unser Sohn und seine Trulla diesen Coup aufgesetzt hatten. Wir machten uns darauf den Reim, dass sie sich durch den Kontakt von Mutter und Tochter in ihrer Erbschleicherei gestört fühlten und deshalb die Mutter woandershin verbracht hatten.

Also gingen wir noch am selben Tag zur Polizei, um eine Entführung anzuzeigen. Der Polizeibeamte telefonierte eine viertel Stunde, um uns dann mitzuteilen, dass die Mutter nicht entführt sei. Ja, wo sie denn sei? Das dürfe er nicht sagen. Aber die Mutter sei wohlauf. Nun, das war wenigstens ein Fitzelchen Information mehr, als uns das Altenstift gab. Anderntags versuchten wir, die Mutter telefonisch zu erreichen, stellten aber anhand der Fritzbox fest, dass unsere Rufnummer blockiert war und auf einen Dummy umgeleitet wurde. Hierauf mandatierten wir einen Rechtsanwalt für Betreuungsrecht. Doch auch er kam bei der Heimleitung nicht weiter, da unser Sohn eine Betreuungsvollmacht besaß. Mit ihr hatte die Oma, als sie ins Heim zog, den Bock zum Gärtner gemacht. Aber damals, noch streitlustig und narzisstisch gekränkt, war ihr ihre Feindschaft zur aufsässigen Tochter wichtiger, als an den Fall der Fälle zu denken.

Nach acht Tagen grübeln und wütender Hilflosigkeit in denen wir nicht wussten, was mit der Schwiegermutter geschehen war und wo sie festgehalten wurde, kam mir vorm Einschlafen der hilfreiche Gedanke, dem Sohn eine SMS mit drei Worten zu schicken: „Wo ist Oma?“. Tatsächlich antwortete er prompt, Oma liegt mit einem Schenkelhalsbruch im Krankenhaus. Das war für ihn schon das halbe Los zum Erbe.

Im Krankenhaus ging ich mit ins Zimmer. Da lag die Schwiegermutter mir völlig fremd, dement und im Durchgangssyndrom. Sie wusste weder wo sie war, noch was mit ihr geschehen war. Kurz darauf kam auch unser Sohn. Ich sah ihn dort nach einem Jahr wieder. Meine Frau fragte ihn, warum er das üble Spiel mit den Schriftstücken inszeniert habe, die er seiner Oma vorgelegt hatte, worauf er wutentbrannt aus dem Krankenzimmer rannte. Am Lift stellte ihn meine Frau erneut zur Rede. Worauf er in Gebärde und überschlagender Stimme meiner Frau vorwarf, sie sei jetzt nach zehn Jahren nur bei ihrer Mutter aufgetaucht, um erbzuschleichen. Dazu verhöhnte er, um seiner Verachtung noch mehr Ausdruck zu verleihen, unseren neuen Nachnamen. Gleichzeitig machte er eine Gebärde, als wolle er sein Wasser an seiner Mutter abschlagen. Hierauf erhielt er von ihr seine dritte Ohrfeige im Leben. Es war eine ordentliche Watsche. Für einen Moment wollte er auf seine Mutter los, doch die hob nur das Kinn und fixierte ihn.

Mein Sohn ein Täter …

Als besonders widerlich empfand ich, als ich davon hörte – ich war bei der Schwiegermutter im Krankenzimmer geblieben -, dass unser Sohn um seines Vorteils willen uns verriet und gleichzeitig verhöhnte, indem er unsere elende Geschichte als ein uns angemessenes Schicksal guthieß. Seinen Spott auf unseren Namen, empfand ich auch als Spott auf unsere Geschichte. Womit mich einmal mehr die Strukturen des Missbrauchs erschreckten, die so klandestin im allgemeinen Bewusstsein verankert sind. Opfer sind verachtenswert, und männliche Opfer noch mehr; denn einem Mann geschieht so etwas nicht. Und da fiel mir wieder ein, dass mein Sohn auch Täter ist.

Er ist es jetzt in seiner Niedertracht, und er war es viele Male davor, als wir ihn immer wieder vom Strick abschnitten und ihm guten Leumund sowie Alibi gaben. Und es fiel mir auch die Szene ein, als uns ein Lehrer der Gehörlosenschule bat, auf ihn einzuwirken, weil er im Pausenhof in einer Spielhütte dem Jakob an die Hose ging. Und da fiel mir wieder ein, wie er versuchte uns heimlich beim Beischlaf zu beobachten, und wie er einmal, als ich nicht zuhause war, dreizehnjährig die Mutter sexuell bedrängte, und sie sich ihm erwehrte, indem sie ihn eindringlich daran erinnerte, dass sie seine Mutter sei und man sowas nicht mache; worauf er abließ. Damals hatten wir für sein auffälliges Verhalten Erklärungen, die in die Zeit der 80er und auf seine Gehörlosigkeit passten. Längst aber neige ich der These seiner damaligen Kinderpsychologin zu, die meinte, dass er durch die mit zwei Jahren erlittene Meningitis und Enzephalitis nicht nur sein Gehör verloren, sondern auch, hirnorganisch betrachtet, Teile seiner sozialen Kompetenz eingebüßt hatte. Und dann mein nächster Gedanke, warum bleibt das alles, dieser ganze prekäre Mist an einem hängen? Warum nisten sich Elend und Niedertracht in einer Familie so ein? Warum ist unser Sohn ein Täter? Wohl weil wir Opfer sind und er, dem sozialen Mem folgend, nicht auch Opfer sein wollte …?

Ich habe dazu keine Antworten, nicht jetzt und wohl auch nicht später, zumal die üble Geschichte weitergeht …

Am nächsten Tag, die Mutter war bereits aus dem Krankenhaus ins Altenstift verlegt worden, erhielt meine Frau eine Kette von SMS, die ausgedruckt vier Seiten Text ausmachten. In ihnen beschimpfte uns unser Sohn und drohte uns an, uns umzubringen. Hierbei wurde er so konkret, dass sich meine Frau seitdem vor ihm fürchtet und ich sie bei den Besuchen im Altenheim begleiten muss, da sie vor einem Zusammentreffen mit ihm bange ist.

Vier Seiten dumpfe Niedertracht simste er uns, ein Dokument seiner Wut, Verzweiflung und Feindschaft. Ein pubertärer Auswurf, dreißig Jahre zu spät. Interessant daran ist, dass er über lange Strecken den hinterhältigen Erzählungen seiner Oma über seine Mutter folgte. Diese Passagen hätten ebensogut von ihr kommen können. Was uns wiederum zeigte, wie tief er von ihr vergiftet und wie umfassend instrumentalisiert wurde. Er war bereitwillig zum Werkzeug der Täterin geworden, weil er selbst Täter war, der sich ein Erbe erschleichen wollte. In ihm hatte sie ein Gefäß, mit dem sie ihr Gift über die nächste Generation hinausreichen konnte.

Das Opfer sorgt sich um die Versorgung der Täterin

Bei unseren folgenden Besuchen im Altenwohnstift, die uns nicht mehr verwehrt wurden, nachdem die Schwiegermutter ihnen gegenüber der Verwaltungsleitung zugestimmt hatte, erkannten wir allmählich das Muster, das die böse Absicht von Sohn und Trulla trug. Es war einfach: die Oma isolieren, sie gaslighten, sie selten besuchen, sie mit Geldforderungen verunsichern, sich nicht um ihre Sicherheit und ihr Wohl zu sorgen. Man besaß ja die Betreuungsvollmacht und konnte somit die Dinge laufen lassen. Vom Wohnstift wurde zwar einiges für die Mutter getan, doch das waren bezahlte Leistungen, die mit der Versicherung abgerechnet werden konnte. Alles mehr, das ebenfalls Geld kosten würde, müsste vom Betreuer bestellt werden. Und da jeder Cent, der hierfür ausgeben würde, ein Cent aus dem künftigen Vermögen des Sohnes gewesen wäre, wurde nichts angeschafft. Nun wurde mir klar, warum er sich vor einem Jahr beim Schenkelbruch seiner Oma so ereiferte, dass die zusätzlichen Betreuungskosten so hoch seien. Ja, er kannte gar die Kategorien der gängigsten Zusatzleistungen; allerdings überzog er die Tarife zur Hyperbel, um sich für die Zukunft arm zu rechnen.

Aus dem Krankenhaus zurück ging es der Schwiegermutter schlecht, und ich denke, wären wir nicht da gewesen, wäre sie womöglich gestorben. Jedenfalls fehlte ihr der Lebenswille, der gerade in solchen Phasen mitentscheidend ist, ob man rekonvaleszent wird oder siecht. Schon am ersten Tag stürzte sie zweimal aus dem Bett. Die Stürze geschahen, weil sie aufgrund ihrer Demenz ihre Situation nicht erfassen konnte. Nachdem sie in der Nacht erneut stürzte, drängten wir darauf, dass das sofort unterbunden werden muss. Ein Pflegebett mit Bettgitter war nicht möglich, weil durch den Gesetzgeber sanktioniert, und es hätte wenn, von unserem Sohn beantragt werden müssen, der sich allerdings nicht um seine Oma kümmerte und speziell daran kein Interesse hatte; konnte doch jeder Sturz der Oma ihr letzter sein. Also drängten wir auf eine Sturzprophylaxe, die dann in Form einer Matratze vor ihr Bett gelegt wurde. Zudem befinden sich im Appartement genügend Stolperfallen, die unbedingt beseitigt gehören. Auch eine Sturzhose für die Nacht würde zu einer verantwortungsvollen Prophylaxe zählen. Das aber müsste der Enkel als Betreuungsbevollmächtigter in die Wege leiten.

In der Folge beantragte unser Anwalt die Überprüfung der erteilten Betreuungsvollmacht hinsichtlich der Eignung unseres Sohnes und die Ernennung eines Berufsbetreuers, da wir gewiss nicht zu Betreuern der Täterin werden wollen. Zumal sie sich am Anfang unserer Zusammentreffen von ihrer schlechtesten Seite zeigte. Sie war gehässig, nörgelte an ihrer Tochter herum und verglich sie wie vor 50 Jahren mit anderen Frauen, die natürlich die besseren, schöneren und erfolgreicheren waren. Oh, sie triggerte meine Frau perfekt und zog mich hierdurch mit in ihren seelischen Orkus hinunter, denn ich litt mit meiner Frau. Allerdings verstanden wir, sie zu regulieren, indem sie Widerspruch erntete, was der in ihr noch verbliebenen Persönlichkeit unangenehm war. Mithin kehrte sie eine Seite hervor, die unser Rechtsanwalt zuvor schon, uns tröstend, erwähnte; nämlich dass er die Erfahrung gemacht habe, dass bei Dementen häufig ein verborgener kindlicher Wesenszug zutage treten würde. Inzwischen ist sie erträglicher und ihre bösen Züge wirken nur noch wie aufscheinende Macken, die uns an ihre Täterschaft erinnern.

Eine goldige Familie oder der „kindliche“ Raubzug

In ihrem Appartement lagen Dutzende Briefe. Es waren Bankauszüge, Mitteilungen der Krankenkasse, Mahnungen und Rechnungen des Altenheims über Pflegekosten, die ihr Enkel ohne Sinn und Verstand abgezeichnet hatte. Zumindest waren da einige Positionen dabei, die uns zweifelhaft und als kreative Pflegekostengestaltung erschienen. Die Bankauszüge waren allesamt ungeöffnet, wir sortierten und verstauten sie ebenso ungeöffnet für ihre Steuerberaterin.

Alsbald aber begann die Schwiegermutter, nachdem sie wieder Vertrauen zu uns gefasst hatte, zu erzählen, dass ihr der Enkel Geld aus ihrem Geldbeutel nehme und sie ohne Geld sitzen ließe. Das war für uns zunächst nur eine der vielen Geschichten, die Demente fabulierten, um sich zu erklären, warum sie ihr Geld für den Augenblick nicht finden, weil sie vergaßen, wo sie es für sich versteckten.

Schließlich kam dann noch eine Geschichte hinzu, die über vier Wochen immer konkreter wurde. Die Schwiegermutter erzählte uns, dass sie ihrem Enkel 3.000 € Schulden bezahlt hätte. Sie fing davon bei jedem Besuch wieder an und ihr Bericht war konstant, womit ihm die erkennbare Fabulation der Dementen fehlte. Also blätterte ich in ihrem Kalender und stieß in der Tat auf Eintragungen von ihr, dass sie dem Enkel Geld für Schulden gegeben hatte. Ich verglich ihre Vermerke mit ihren Kontoauszügen – ihre Geschichte stimmte. Sie hatte ihrem Enkel gar 5.000 € gegeben. Dabei stellte ich auch fest, dass sie unseren Sohn über die letzten beiden Jahre mit 1.000 € pro Monat unterstützt hatte. Was ich ihr eigentlich als eine üble Tat mehr anrechnen möchte, die ihrer Tätereigenschaft folgt, nämlich andere Menschen zu manipulieren und in den Bann ihrer narzisstischen Herrlichkeit zu schlagen.

Allerdings trafen mit ihr und dem Enkel zwei Täter aufeinander, die sich gegenseitig, jeder auf seine Weise, rupften. Also eine Wirt-Wirt- oder Win-Win-Symbiose. Übel waren ihre Zuwendungen vor allem deswegen, weil sie unserem Sohn den Eifer nahmen, selbst sein Leben zu gestalten. Jetzt ist mir klar, warum er die letzten elf Jahre nur noch halbtags arbeitete. Mit der Oma und der Unterstützung durch seine Lebenspartnerin hatte er ein auskömmliches Leben. Zugleich hatte er so wenig, dass es zwar für seinen Konsum reichte, doch nicht soweit, um in ein Vorhaben zu investieren, außer er würde auf die augenblickliche Annehmlichkeit verzichten und sparen; dagegen schien ihm jedoch das geduldige Warten auf das baldige Ableben der Großmutter aussichtsreicher. Und auf das wartet er schon seit elf Jahren, weswegen ich ihm damals, als sein Opa verstorben war und seine Oma ins Altenstift zog, schon einmal gehörig und erfolglos die Leviten las.

Damit nicht genug. Bei der Durchsicht ihrer Auszüge fiel mir auf, dass die Oma im ersten Quartal dieses Jahres 6.500 € in zwei Partien von einem anderen Konto abgehoben hatte. Sie selbst vermochte sich an keine der beiden Auszahlungen erinnern, auch konnte sie zu dieser Zeit das Altenstift nicht mehr selbstständig verlassen. Hierauf erkundigten wir uns bei der Bank und erfuhren, dass die Auszahlung in einer nahen Filiale erfolgt war. Der Enkel besitzt keine Bankvollmacht. Deshalb fuhr er seine Oma in die Filiale und ließ sie beim ersten Mal den Auszahlungsbeleg unterschreiben. Beim zweiten Auszahlungsbeleg fälschte er ihre Unterschrift. Wichtig war nur, die Kontoinhaberin wurde vom Kassier gesehen.

Während somit unser Sohn seine Oma ausplünderte, aß die alte Frau abends trocken Brot, klagte bei uns darüber, dass sie kaum noch Leibwäsche besäße und wollte sich von ihrer Tochter Geld leihen, weil ihr der Enkel auch den letzten Schein genommen hatte. Gleichzeitig aber mäkelte sie an ihrer Tochter herum und erwähnte immer wieder, was für ein schlimmes Kind sie gewesen sei. Diese Erzählschleife ist tief in ihr Gedächtnis eingegraben und war zeitlebens der Gegenstand für ihre Attacken gewesen. Und damit die Tochter gut getriggert war, wiederholte sie noch eine andere Erzählschleife, bei der sie die Trulla des Enkels, mit der er seit zehn Jahren zusammensteckt und die ihm bei der Ausplünderung der Oma assistierte, ob ihrer vermeintlichen Lieblichkeit über den Schellenkönig lobt. Auch dies macht sie mit finsterer Freude, da sie durchaus noch die Wirkung ihrer Tücke mit narzisstischer Verzückung aus dem Gesicht ihrer Tochter abzulesen vermag.

Was bleibt ist Barmherzigkeit mit der Täterin

So waren wir, seit wir mit ihr wieder zu tun haben, mehrmals geneigt, unsere Visiten bei ihr einzustellen. Jedoch wäre die Konsequenz gewesen, sie der Wurstigkeit unseres Sohnes zu überlassen und mit ihrem baldigen Tod zu rechnen. Jedenfalls braucht es nur ein wenig Vernachlässigung, um einem alten Menschen das Lebenslicht auszublasen. Somit entschieden wir uns, barmherzig zu sein, und der Mutter und Schwiegermutter Lebensfreude zu vermitteln, indem wir uns sorgen, dass sie wieder auf die Beine kommt und Krankengymnastik erhält; dass ihr der Funkfinger am Handgelenk erneuert wird, sobald sie ihn verlegt hat; dass sie im Garten ein Stück weit geführt wird; dass sie Ansprache hat; dass meine Frau sie eincremt; wir ihr staubwischen, und es wär noch vieles mehr möglich, wenn endlich ein Berufsbetreuer durchs Gericht bestellt würde, worauf wir nun seit Ende März warten. Denn dann würde ihr Leben sicherer werden, die gefährlichen Stolperfallen würden beseitigt, durch die sie in den letzten acht Wochen mehrmals stürzte und sich bei einem Fall eine tiefe Wunde zufügte. Ihr Frühstück und Abendessen wäre gesichert. Sie hätte Ansprache in einer Demenzgruppe, und auch der Arzt würde sie öfters sehen. Sie bekäme ein ihrer Gefährdung entsprechendes Bett, denn das jetzige Luxusbett, in dem sie liegt, ist Luxus, weil an der Kante viel zu weich und damit der Ein- und Ausstieg zu gefährlich. Sie hätte wieder frische Leibwäsche im Schrank, und sie würde niemals wieder ohne Funkfinger am Handgelenk stürzen; und vor allem der Enkel würde sie nicht weiter ausplündern, so dass sie ohne Geld im Altenstift säße und nicht mal ein Trinkgeld geben könnte.

Ja, sie war eine Täterin und besitzt noch Züge derselben, doch sie ist jenseits von gut und böse, und deswegen gilt ihr unsere Barmherzigkeit; denn sie kann die Folgen ihrer bösen Tat kognitiv nicht mehr erfassen und somit weder korrigieren noch sühnen. So fragt sie manchmal ihre Tochter, warum sie sich über zehn Jahre nicht mehr gesehen haben, sie wüsste es nicht und verstünde es nicht. Doch mit zwei drei Sätzen hat man sie wieder ab- und in freundlichere Gefilde gelenkt; schließlich ist es sinnlos, mit ihr darüber zu sprechen, das alles hat ihre Demenz gnädig verwischt.

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